Die Maßnahme

Premiere: 3.3.2017
Ort: Brechtfestival Augsburg, Gaswerk, August-Wessels-Straße 30, 86156 Augsburg

Ein Lehrstück von Bertolt Brecht mit Musik von Hans Eisler

Vor dem Parteigericht, dem sogenannten „Kontrollchor“, müssen sich vier russische Agitatoren für die Tötung eines Genossen verantworten, der während ihrer Propagandareise in China die Verbreitung der kommunistischen Ideen durch sein individuelles, mitmenschliches Handeln gefährdet hatte. Also spielen sie die Situationen nach, die zu dieser extremen „Maßnahme“ geführt haben. Die Agitatoren haben ihre Identität mit Masken ausgelöscht und als Chinesen verkleidet unter den brutal ausgebeuteten chinesischen Arbeitern schnell eine große Zahl von Anhängern gefunden. Doch das geforderte taktisch-bürokratische Vorgehen verlangt es, persönliche Gefühle und moralische Grundsätze für die Revolutionsidee zu verleugnen, wozu der junge Genosse nicht in der Lage ist – sein mitfühlendes Handeln entlarvt die Gruppe als fremde Revolutionäre. Um nicht selbst in die Hände der Chinesen zu fallen, töten sie den Genossen mit dessen Einverständnis und setzen ihre Arbeit mit großem Erfolg fort. Die Weltrevolution marschiert schließlich auch in China ein– doch zu welchem Preis?

Die Maßnahme gilt als Brechts umstrittenstes Werk. Die Uraufführung löste 1930 so heftige Kritik aus, dass Brecht ein Jahr später eine neue Fassung schrieb, die von kommunistischer wie bürgerlicher Seite nicht weniger angegriffen wurde. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs untersagte er 1945 selbst, das Stück weiter spielen zu lassen. Es gehört zu den sogenannten „Lehrstücken“, mit denen Brecht sich nicht primär an das Publikum, sondern an die Schauspieler selbst richtete, um sie politisch zu schulen. Die Maßnahme gilt gleichzeitig als eine der bedeutendsten Kompositionen von Hanns Eisler.

„Hier steht ein Protagonist im Vordergrund, der ein System mit all seiner Kraft, selbst unter Lebensgefahr, zu unterstützen versucht. Doch etwas hindert diesen jungen, idealistischen Menschen daran, sich völlig dem Diktat des Systems zu unterwerfen: Es ist sein „eigenes Gesicht“, seine Individualität, sein Wesen. Mit jedem Menschenleben, das der junge Genosse rettet, mit jedem Eingriff, der das unerträgliche Leid des Einzelnen mindert, gefährdet er – so die Agitatoren vor dem Kontrollchor – die große Revolution, den großen Brand.

Übertragen wir dies nun auf unsere aktuelle politische Situation, namentlich auf die Situation unserer EU: Es hat nicht Jahre gedauert, sondern Wochen, um ein Klima der Menschenverachtung auf den Straßen Deutschlands und in ganz Europa zu schaffen. Wer hätte je erwartet, dass ein Land wie Großbritannien die EU verlassen würde, um sich vor der Invasion der Flüchtlinge zu schützen? Wer hätte je geglaubt, dass Brücken in Skandinavien gesperrt werden, dass Zäune vor Hilfesuchenden hochgezogen werden, dass man die sogenannten Außengrenzen der EU sichert, um Leid und Verderben künstlich zu potenzieren? Man scheut sich nicht mehr, tote Kinder, Frauen und Männer in Sichtweite zu ertragen – man nimmt es den Flüchtlingen fast übel, dass sie im Grunde diese Bilder, die einem nicht aus dem Kopf gehen wollen, erst möglich machen. Das Leid an den Außengrenzen hören wir nicht mehr, sondern nur die unmenschlichen Grenzüberschreitungen des Inneren: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ (so Innenminister Thomas de Maizière)

Was wollen mein Innenminister und meine EU von mir (von uns)? Sie wollen das, was die Agitatoren und der Kontrollchor auch vom jungen Genossen verlangen: Die Auslöschung meines Gesichtes, meiner Individualität, meines Wesens – im Grunde die Auslöschung meiner persönlichen Verantwortung. Sie wollen, dass ich für das große Ganze, für das System, für die EU meinen Begriff der Mitmenschlichkeit und des Mitleids auf bürokratische Art neu definiere. Es liegt an uns, Gesicht zu zeigen, oder stumm und ohnmächtig der Auslöschung unseres Gesichtes zuzustimmen.“ Selcuk Cara

Die Maßnahme ist eine Eigenproduktion des Brechtfestivals und wird von Regisseur Selcuk Cara eigens für die beeindruckenden Gebäude auf dem Gelände des Gaswerks Augsburg konzipiert – ein Novum in der Geschichte des Festivals. In den verlassenen Denkmälern des Industriezeitalters folgt das Publikum den Spielern durch die Stationen des Dramas an mehrere Orte auf dem Areal.


Konzept, Regie, Bühnenbild und Lichtgestaltung: Selcuk Cara
Musikalische Leitung und Leitung Chor: Geoffrey Abbott
Agitatoren: Dagmar von Kurmin, Florian Mania, Katharina Rivilis, Luise Wolfram, Volker Zack

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